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Krieg – Not – Revolution – Demokratie: Weilimdorf vor 100 Jahren war kein Zuckerschlecken

(RED) 2019 zeigt der Jahresplaner, das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. In Weilimdorf wird das alte Kiesbett derzeit in einen ansehnlichen Platz verwandelt, der Autoverkehr ist dicht, es staut sich von der Solitude bis zur Lindenbachhalle. Im Vivere am Löwen-Markt trinkt sich heute der italienische Espresso, Cappucino wie Tasse Kaffee sorgenfrei: Bernhard Klar und Christoph Schmid vom Vorstand des Heimatkreises jedoch halten ein Heft in der Hand, das ziemlich genau 100 Jahre auf Weilimdorfs Zeitschiene zurückblickt: das neue “Weilimdorfer Heimatblatt”, die 41. Ausgabe bereits. Und diese hat so gar nichts mit der “guten alten Zeit” zu tun, im Gegenteil: es geht um Krieg, Not und Revolution im Jahr 1918 – und den Beginn der Demokratie in “Weil im Dorf” 1919.

Zuckerschlecken war die Zeit damals nicht: der Strom wurde immer wieder abgeschaltet, Autos kam es kaum, die Straßenbahn nach Weilimdorf war noch ein Hirngespinst, die Jugend zog, so der Pfarrbericht von damals, “rauchend und trinkend” durch den Ort. Es gab fleischlose Wochen, Milch gab es rationiert (einen halben Liter für eine vierköpfige Familie), die Wohnungsnot war groß, Brennmaterial zum Heizen war so wertvoll wie Gold. Dort wo man heute just in diesem Moment eben seinen Kaffee im Vivere genießt, war vor 100 Jahren die Bäckerei Nufer gestanden, zugleich war der Betrieb während des Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918) die Lebensmittelsammelstelle des Ortes. Konnten sich die Bauern und Nebenerwerbslandwirte in “Weil im Dorf” noch irgendwie mit “eigener Produktion” über Wasser halten, waren Handwerker und Industriearbeiter auf die rationierte Lebensmittelverteilung angewiesen.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieg am 9. November 1918 endete die Not der Menschen jedoch nicht. Der Winter stand vor der Tür – dem Krieg folgte noch mehr Not. Und die Revolution. “Die vollzug sich in Weilimdorf immerhin unblutig”, weiss Bernhard Klar zu erzählen, der das neue Heimatblatt mit viel Aufwand im Haus der Geschichte sowie im Württembergischen Staatsarchiv recherchiert hat – seine mehr als 30jährige Erfahrung als Verwaltungsleiter im Haus der Geschichte in Stuttgart half ihm allerdings beim Erarbeiten des Inhaltes sehr: “Ich war bereits mit der neuen Ausstellung “der Anfang der Demokratie im Südwesten 1918 bis 1924” befasst – und so lag es sehr nahe, diese Daten auch für Weilimdorf zu beleuchten”. Auf 23 DIN A4 Seiten wird der Leidensweg der Menschen in Weilimdorf in den Jahren 1918 bis 1919 detailiert beschrieben, historische Dokumente sind ebenso mit abgedruckt: “Geheime Stimmungsberichte” aus der Bevölkerung für die Regierung mit ausführlichen Berichten, was die Menschen damals empfanden. Durchhalteparolen für den “heiligen Krieg”, der obwohl verloren, bis zuletzt mit Vorträgen im Ort den Rückhalt der Bevölkerung bekommen soll. Bis Ende 1917 ließen 90 Weilimdorfer ihr Leben an den Fronten, 1918 kamen nochmals 30 hinzu. Ihre Namen kann man auch heute noch lesen – am Mahnmal an der Oswaldkirche.

Mit dem Ausrufen der Republik am 10. November 1918 war die Revolution auch in Weilimdorf präsent: am 4. Dezember  fand im Rathaus neben der Oswaldkirche die Wahl der Arbeiter- und Bauernräte statt. Ironischerweise sind in Weilimdorf von den gewählten Personen mehr Namen auf der Liste von Lehrern, Industriellen wie Handwerkern als von Arbeitern und Bauern, wie man im Heimatblatt zu lesen bekommt.

Mit den ersten demokratischen Wahlen, die am 12. Januar 1919 für die “Landesversammlung Württemberg” sowie am 19. Januar 1919 für die “Deutsche Nationalversammlung” durchgeführt wurden, konnten erstmals in der Geschichte von Weilimdorf die Menschen wählen gehen, die Demokratie war geboren. Und sie gingen wählen: am 12.01.1919 lag die Wahlbeteiligung in Weilimdorf bei 93,6 Prozent, am 19. Januar 1919 bei 92,3 Prozent. “Wahlmüde” waren die Weilmer wohl bei der ersten demokratischen Gemeinderatswahl am 25. Mai 1919: nur 75 Prozent gingen wählen. Überraschend allerdings die Wahlergebnisse der Weilmer damals: 58,8 % stimmten bei der Wahl zum Landesparlament für die SPD, bei der Nationalversammlung eine Woche später kam die SPD im Ort gar auf 61,5 %. Bei der Gemeinderatswahl vier Monate später gab es zwei Wahllisten: 8 Plätze im Ortsrat für die SPD und 8 Plätze “für die Vereinigung der bürgerlichen Parteien”. Auch wenn bei dieser Wahl erstmals die Frauen auch mitwählen durften: es waren nur zwei auf den Wahllisten – keine von beiden schafften es. Weder Friederike Brösamle für die SPD noch Luise Gommel für die Bürgerlichen. Die Männer blieben in Weilimdorf im Gemeinderat also erstmal unter sich.

Genau 100 Jahre nach dieser ersten demokratischen Gemeinderatswahl im Jahr 1919, am 26. Mai 2019, wird in Stuttgart – und damit in Weilimdorf wieder gewählt: “drei in einem”. Es gilt den Gemeinderat neu zu bestimmen, die Regionalwahl findet statt – und die Europawahl. 2014 lag die Wahlbeteiligung in Stuttgart nur bei 46,6 Prozent. Gerade mal die Hälfte von vor 100 Jahren. Doch wie gefährdet die Demokratie 100 Jahre nach ihrer Konstituierung bei uns ist, zeigt der um sich greifende Rechtsruck wie Nationalpopulismus in Europa. Wer das Erreichte der letzten 100 Jahre schützen wie weiter verbessern will, sollte daher am 26. Mai wählen gehen. Wer daran noch zweifelt, sollte sich das neue Weilimdorfer Heimatblatt holen und lesen. Es ist erhältlich bei:

– Tabakwaren Held im Löwen-Markt
– in der Stadtteilbücherei Weilimdorf
– Schreibwaren Prädikant am Wormser Platz
– und im Bürgerservice im Bezirksamt.

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